L E T’s G O E A S T
(erschienen
in MOTALIA Nr. 61/1994)
Dieses Jahr sollte es etwas besonderes
werden - der Osten. Genauer gesagt, wollten Sonja und ich
(G/S 800 und 1000 S) mit einem befreundeten Pärchen (Ingna
und Oliver auf Güllepumpen) von Kiel nach St. Petersburg
übersetzen und quer durch das Baltikum zurückfahren.
Die Fährüberfahrt war auch problemlos, bis
auf die Tatsache, daß die anderen beiden noch knapp die Fähre
enterten, weil sie bei Hein Gericke noch einen Spiegel
besorgten. Einer der ihren war während der Hinfahrt nämlich
verlustig gegangen. Das Essen auf der Fähre, durch die
Vollpension abgedeckt, erwies sich als relativ gut und sehr
reichhaltig und nach leicht bedecktem Wetter in Deutschland
hatten wir mitten auf der Ostsee sogar einen Sonnentag.
Das änderte sich, als wir in St. Petersburg
einliefen. Die bedrückende Stimmung während des Hindurchgleitens
durch die recht maroden Dock- und Hafenanlagen wurde noch
verstärkt durch das Grau und den Nieselregen. 18.00 Uhr war
Anlegen und 1½ Stunden später waren wir schon durch die
Zollformalitäten durch. Die Grenzer waren freundlich und
interessierten sich mehr für Ziele und Motorräder als für uns,
und als wir aus der Halle rollten, lockerte auch der Himmel auf.
Eine knappe Stunde später waren wir auf dem Campingplatz, wobei
es durch die Zeitumstellung immer noch angenehm hell war. Ein
gemütlicher Tee mit Rum beschloß diesen doch etwas gefürchteten
Tag der Einreise.
Die kommende Woche fuhren wir mit dem
regelmäßig unregelmäßig verkehrenden Bus nach St. Petersburg
hinein und machten in aller Ruhe Sightseeing. Die Stadt ist das
reinste Museum; Anfang des 18. Jahrhunderts von Zar Peter dem
Großen auf Sumpfgebiet erbaut, im 2. Weltkrieg teilweise
zerstört und danach sehr schön wieder restauriert, lohnt sich
auf jeden Fall für eine Woche. So konnten wir auch noch etwas
hinter die Kulissen schauen und hetzten nicht nur von Highlight
zu Highlight. Obwohl keine Museumsfreaks, hat uns die Eremitage
fasziniert. Alle Zaren haben dort ihre Geschenke und Erwerbungen
ausgestellt, teilweise unglaublich schöne Sachen. Das Leben an
sich war recht einfach und billig. Es war fast alles an
Lebensmitteln zu bekommen (wenn man sich geduldig in bestehende
Schlangen eingereiht hat) zu Spottpreisen, es gab nur nicht
alles überall. So hieß die Devise: Wenn man etwas schönes sieht
- sofort kaufen. Die Verständigung war wie in Spanien. Da unser
Russisch so gut wie unser Spanisch war und ist, nämlich gleich
Null, wurde auf Körpersprache umgestellt, was uns auch immer ans
Ziel brachte. Die Leute waren prinzipiell freundlich, und daß
uns auf dem Campingplatz etwas geklaut wurde, war zum Großteil
auch Nachlässigkeit. Sonja hatte vergessen, einen Koffer
abzuschließen, dessen Inhalt am nächsten Abend bis auf ein paar
Packungen Spaghettis prompt verschwunden war (Nudeln hatte
derjenige wohl schon genug). Es handelte sich hierbei aber auch
nur um einen Schlafsack-Kompressionssack und diverse
Tütensuppen. Des weiteren fand das Klettband an der
GS-Prallrolle mit BMW-GS-Emblem auch einen Liebhaber. Aber
dafür, daß wir die Motorräder den ganzen Tag über unbewacht
stehen ließen, passierte zu unserer Freude sehr wenig.
Fünf Tage nach Ankunft ging es ziemlich
fußkrank endlich zum Entspannungsteil über - dem Motorradfahren.
Wir fuhren nach Tallin, der Hauptstadt Estlands, durch und
fanden einen netten Campingplatz. Standard war hier allerdings
nur noch Plumpsklo, was sich auch auf den späteren Plätzen
selten änderte, und warmes Wasser nur nach Absprache. Nach einem
herrlichen, sonnigen Abend war es dann am nächsten Tag so
richtig ungemütlich naß (von oben), womit sich schon das Wetter
für die kommenden drei Wochen ankündigte. Tallin besichtigt mit
seiner hübschen Altstadt, ein bißchen rumgegondelt auf den
Mopeds, dann wollten wir vor dem Wetter fliehen und erinnerten
uns an die Bauernregel: Geht das Wetter dir auf den Pinsel, fahr
doch einfach auf die Insel. Also, auf nach Saaremaa.
Auf dem Weg dorthin wieder mal schwer Regen
gehabt, trotzdem noch die Halbinsel Paldiski mit seinem alten
Militärstützpunkt (ehemals russisch) angeschaut. Das Wetter
brauchte nur einen geringen Teil dazu beitragen, der ganzen
Gegend eine beklemmende Ausstrahlung zu geben. Zerstörung ohne
Ende, wir fühlten uns wie am Ende der Welt. Den Abend,
vollkommen durchnäßt, beschlossen wir in einer Hütte auf einem
Campingplatz auf Saaremaa bei einigen Bechern Rum mit Tee.
Hütten mieten ist sowieso angesagter bei den Eingeborenen,
Wessies mit Zelten werden zwar auch aufgenommen, aber doch mit
leicht verständnisloser Miene in irgendeine Ecke des Platzes
verwiesen.
Am nächsten Tag nach den verbleibenden 80 km
bei der Inselhauptstadt Kuressaare auf einem sehr komfortablen
Campingplatz unser Zelt aufgeschlagen. Hier gab es einen
weiteren Höhepunkt dieser Reise. Die Unmengen von Stechmücken,
die uns bisher jeden Abend geplagt hatten, kannten hier keine
Tages- oder Nachtzeit, sie waren immer hungrig. Sogar 2 m vom
Meer entfernt am Strand kannten sie keine Gnade und keinen Wind.
Wir flohen schließlich vor den Mücken und dem letzten
wolkenbruchartigen Regen in eine Hütte und konnten den
restlichen Tag endlich nutzen, die landschaftlichen Schönheiten
dieser Insel bei Sonnenschein (!) zu erleben. Die Fahrt über
viele Schotterpisten brachte uns zu vielen interessanten
Hinterlassenschaften der Russen und auch Einöden, wo wir nie
Einwohner vermutet hätten. So schön auch diese Insel war, wir
hofften in unserem Wahn immer noch auf besseres Wetter woanders
und setzten wieder auf’s Festland über, wo wir dann bei Pärnu
einen Traumplatz fanden: direkt am Meer gelegen auf einer Wiese
stellten wir die Zelte im Sonnenschein auf und genossen einen
Abend fast ohne Mücken. Am nächsten Tag konnten wir sogar am
Strand im Sonnenschein relaxen. Welch Erholung, so stellten wir
uns Urlaub vor!
Es sollte laut Murphy anders kommen. Morgens
die nassen Zelte eingepackt und im immer wieder auftretenden
Regen uns auf den Weg in die einzige Studentenstadt Estlands
gemacht - Tartu. Dort hatte man allerdings mehr den Eindruck -
trotz Semesterferien - in Studentenunruhen gekommen zu sein.
Soviel „Politsei“ hatten wir noch nie auf einem Haufen gesehen.
Unruhen gab es dafür aber überhaupt nicht. Die Stadtbesichtigung
war recht kurz, auch weil sich Ingna & Oliver noch am
vorletzten Abend mit dem Motorrad in einer nassen Kurve
hingelegt hatten und Laufurlaub brauchten.
Die letzte große Stadt unserer Reise lag vor
uns: Riga. Vorher überquerten wir noch die Grenze nach Lettland
bei Valga, wo mich nur das überraschende Auftauchen der drei
anderen Motorräder vor der ultimativen Filzung des Zöllners
rettete, nach dem Motto: ein Moped ist interessant, vier Mopeds
bedeuten Arbeit. Estland empfanden wir im Nachhinein als das
angenehmste Land. Die Leute sind freundlich, sehr westlich
orientiert, es gibt alles zu kaufen und es ist sehr billig.
Lettland war anders, aber unbeschreiblich anders. Es war
irgendwie ärmer, die Leute waren auch nicht so „locker“. Wir
hatten den Eindruck, hier war der Kommunismus mit seiner
Trägheit und seinem Desinteresse noch nicht überwunden. Welch
anderes Bild bot Riga, die Stadt, die wir von einem Campingplatz
in Sigulda aus erkundeten. Die so voll von gepflegten
Jugendstil- und klassizistischen Bauten war, daß uns die Luft
wegblieb, auch vom Zurückbiegen des Kopfes. Auch ohne Architekt
zu sein, faszinierte diese schöne alte Bauweise, und ich machte
viele Bilder nur der Bilder wegen. Diese Stadt war wirklich
supergepflegt und verströmte noch die ganze Pracht der alten
Hansestadt. Die Straßen waren allerdings auch noch altes
Hansestadtniveau (Betonung auf alt). Kopfsteinpflaster und
Teerflickenteppiche, durchzogen mit Straßenbahnschienen, die das
Fahren zu Handlingsprüfungen werden ließen. Aber auch hier
sollte Murphy Recht behalten, es sollte schlimmer kommen.
Anyway, Riga war definitiv eines der Highlights dieser Reise.
Nach einigen Tagen auf einem schönen
Campingplatz in Sigulda, wo wir wieder weicheimäßig in einer
Hütte schliefen, die sehr erholsam und auch lustig verliefen,
wohl auch wegen der netten Reisebekanntschaften und des relativ
guten Wetters, trennten wir uns von unseren Freunden. Sie
wollten noch einmal ins Inland. Wir dagegen wollten/mußten nach
den inzwischen drei Wochen Reisezeit wieder daran denken, wie
weit Zuhause weg ist und planten, nach den ganzen
Grenzübertritten in Polen noch ein paar ruhige Tage zu genießen.
Es kam auch dieses anders.
Nächste Etappe war Palanga in Litauen, ein
ehemaliger Badeort, der noch viel von seiner alten
Strandpromenadenmentalität erhalten hat und wunderschöne lange
Strände bietet. Außerdem berühmt für seine Bernsteinfunde.
Andererseits sind die Preise und die Jahrmarktbudenstimmung doch
etwas unpassend zu dem Angebot. Hier hatten die Geschäfte das
dürftigste Angebot, trotzdem, um noch einmal zu betonen: es war
nie ein Problem, Grundnahrungsmittel zu bekommen (incl. Bier),
die Auswahl an Sonstigem war nur etwas dürftiger. Klaipeda,
früher Memel, hat gegenüber Palanga überhaupt keinen Charme
bewahrt und stellte sich beim Durchfahren nur als
plattenbaumäßige Hochhaussiedlung dar. Von dort setzten wir
allerdings nur auf die Kurische Nehrung über, die uns nach
Kaliningrad bringen sollte.
Nach Entrichtung einer kleinen Abgabe zum
Erhalt der Natur konnten wir durch die dichten Wälder Richtung
Süden gleiten, Verfahren konnten wir uns nicht, es gibt nur eine
Straße und die Nehrung ist maximal 500 m breit. Vom Meer sah man
von der Straße aus leider nicht sehr viel. Dafür genossen wir
vom Hafen von Nida aus den herrlichen Blick auf die großen
Dünen, die die Nehrung auszeichnen. Phantastisch!
Nida an sich ist nur ein kleiner verträumter
Ort, mit dem „Am-Ende-der-Welt-Charme“, den ein Ort umgibt, der
direkt an der russischen Grenze liegt. Am Hafen sprach uns
jemand an, ob wir eine Übernachtung suchen würden; er hätte auf
russischer Seite ganz neue Häuser. Wir sagten zu, weil es sich
trotz 20 DM/Person erstmal gut anhörte und wir nach dem
Zeltplatz in Palanga, der sanitärmäßig selbst für östliche
Verhältnisse beschissen war, Komfort und warmes Wasser suchten.
Das fanden wir! Die Häuser waren mit allem ausgestattet und weil
der Besitzer Bauer war, gab es dann auch alles frisch vom Hof.
Die erste Nacht wieder mal im gemütlichen Doppelbett. Nächsten
Tag wandern wir auf die Dünen, so beschlossen wir mit Blick auf
dieselben.
Der nächste Morgen war naßkalt und windig
und so starb auch dieses Unterfangen und wir packten uns
kurzerhand komplett ein und fuhren nach Kaliningrad. Ein kurzer
Stop noch im ehemaligen Ostseebad Cranz zeigte uns, wie weit ein
einst berühmter und sehr schöner Ort verkommen kann. Das war
aber nur ein Vorgeschmack auf das einstige Königsberg. Nach dem
Krieg fast vollständig zerstört, wurde die Stadt ohne jeglichen
Sinn für Ästhetik in realsozialistischer Plattenbauweise wieder
aufgebaut. In der Annahme, es gäbe etwas zu sehen, wagten wir
uns dummerweise in die City. Es gab außer einer Domruine nichts
zu sehen und was viel schlimmer war, wir fanden nicht mehr raus.
Vielleicht auch weil es bis vor kurzem militärisches Sperrgebiet
war, gab es nur Hinweisschilder (wenn überhaupt) in Richtung
Riga, in Richtung Polen - nix! Nach der ersten 45-minütigen
Ehrenrunde im Regen auf etwas, was als Schlaglöcher mit fester
Randeinfassung bezeichnet werden kann (und damit das definitiv
katastrophalste an „Straße“ war, was uns unter die Reifen kam),
half uns ein freundlicher Pole aus der Stadt hinaus. Eine Stunde
später waren wir an der Grenze, die selbst zwei Kilometer vorher
nicht angekündigt war, sich einen Kilometer später aber durch
das Ende der Autowarteschlange offenbarte. Für uns kein Problem,
dran vorbei und innerhalb einer 3/4 Stunde von sehr
interessierten Grenzern abgefertigt. Wir waren sozusagen wieder
im Westen. Durchnäßt wie wir waren, hielten wir im ersten
3-Sterne-Hotel an und mußten nach dem Einchecken doch noch einen
kleinen Standardunterschied feststellen: es gab weder Heizung
noch warmes Wasser. Am nächsten Tag auf Landstraßen im Regen in
einem Rutsch bis Berlin zu Bekannten durchgefahren. Hier war’s
warm, endlich! Sonja fuhr nach Hause und ich schaute noch auf
dem Falkensteiner Italo-Treffen vorbei, wo ich allerdings schon
das gute Wetter am Samstag ausnutzte und nachmittags wieder
heimfuhr. Wenigstens eine Fahrt (fast) ohne Regen.
Zusammenfassend sind wir uns einig, daß sich
der Osten auf jeden Fall gelohnt hat und wir auch zur richtigen
Zeit da waren; die Verhältnisse ändern sich ja ständig, was die
Medien uns täglich bestätigen. Probleme mit der Lebensmittel-
oder Spritversorgung (sogar 98 Oktan) gab es (so gut wie) nie.
Auch die Motorräder liefen blendend. Die einzige Panne, und das
an der Guzzi, war der Verlust des Bolzens zwischen Fußbremshebel
und Gestänge. Wir hatten halt nur sehr viel Pech mit dem Wetter.
Dafür geht es nächstes Jahr wieder gen Süden, allerdings: Polen
war auch sehr schön...
Eric Koch
März 1994